Yurda Burghardt im Interview: Nachhaltigkeit in der Baubranche

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Stahlreport: Welche aktuellen Entwicklungen bestimmen derzeit den Einkauf der Baubranche am meisten?

Yurda Burghardt: Wir sehen in der Baubranche derzeit drei große Trends, die sich teilweise gegenseitig beeinflussen. Erstens die rapide Verteuerung vieler Vorprodukte wie Beton, Stahl, Ziegel, Flachglas, Asphalt oder Dämmstoffe aufgrund von Lieferengpässen und der höheren Energiekosten, vor allem von Erdgas. Der teils zweistellige Preisschub hat sich bei einigen Materialien wie Holz oder Baustahl jüngst zwar etwas abgeschwächt, die Preise liegen aber immer noch deutlich über dem Niveau von Anfang 2021, als die massive Verteuerung einsetzte. Da Vorleistungen mehr als die Hälfte des Bauumsatzes ausmachen, ist die Auswahl preisgünstiger und zugleich zuverlässiger Lieferanten weiter Topthema im Einkauf.

Zweitens der technologische Fortschritt, etwa durch den zunehmenden Einsatz von Baurobotern und Fertigbau, was Materialeffizienz und Bautempo steigert, Kosten spart und auch dem Fachkräftemangel entgegenwirkt. Die Zahl der Bauroboter wächst Prognosen zufolge bis 2026 jährlich im Schnitt um 13,6 Prozent. In Deutschland wird der Anteil der Fertighäuser von derzeit knapp 20 Prozent bis 2030 auf 25 Prozent steigen. Auch die Digitalisierung erhöht Produktivität und Effizienz. Nicht zuletzt ermöglicht die digitale Erfassung der Bauprozesse und -materialien ein effizienteres sortenreines Recycling mit Hilfe Künstlicher Intelligenz am Ende des Lebenszyklus eines Bauwerks. Dadurch ließe sich der Anteil des Schrotts an der Stahlerzeugung in Deutschland erheblich ausweiten.

Und damit sind wir beim dritten Trend: Der technische Fortschritt ermöglicht auch mehr Nachhaltigkeit. Die Produktion von Sekundärstahl auf der Basis von Schrott im Elektroofen führt zu weitaus geringeren CO2-Emissionen. Und mit Hilfe neuer, technisch ausgefeilter Werkstoffe wie Kalziumsilikatplatten oder Graphen, die effektiver, langlebiger und recycelbar sind, kann der Materialeinsatz verringert oder eine höhere Energieeffizienz erreicht werden, so dass sich die CO2-Emissionen und der ökologische Fußabdruck der Baubranche verringern lassen. Das ist allerdings noch Zukunftsmusik. Bis beispielsweise Graphen massenhaft in der Bauproduktion eingesetzt wird, dürften noch einige Jahre vergehen.

Stahlreport: Setzen Kunden auf nachhaltige Projekte, sind es gesetzgeberische Vorgaben oder greifen andere Dynamiken?

Yurda Burghardt: In Europa ist die Bauwirtschaft für jeweils rund 50 Prozent des Primärenergiebedarfs und des primären Rohstoffbedarfs sowie 36 Prozent des Müllaufkommens und 40 Prozent des CO2-Ausstoßes verantwortlich. Wenn die EU ihre Umweltziele erreichen will, dann geht das nicht ohne ein Umdenken in der Baubranche. Die Dynamik kommt sowohl von der Kundenseite als auch von der Politik und der Industrie. Umfragen zufolge wird der Trend zu nachhaltigem Bauen von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung getragen. Die Bauherren sind heute umweltbewusster, sie achten auf Energieeffizienz und geringere Treibhausgasemissionen, zumal sich Energie ja erheblich verteuert hat. Damit liegen sie im Gleichklang mit den Vorgaben der Politik: Die EU hat sich im Green Deal verpflichtet, Europa bis 2050 zu einem klimaneutralen Kontinent zu machen. Der Aktionsplan Kreislaufwirtschaft der EU hebt ausdrücklich die Bauwirtschaft als eine der sieben Schlüsselbranchen hervor. Beim Bau eingesetzte Materialien wie Holz, Beton, Kunststoff, Stahl oder Stein müssen sortenrein und ohne Beimischung von Schadstoffen sein und so verbaut werden, dass sie beim Abriss von Gebäuden nicht verloren gehen, sondern man sie wieder verwerten und so in die Kreislaufwirtschaft zurückführen kann. Der Anteil dieser sekundären Rohstoffe muss in Zukunft stark steigen. Hier kann die Baubranche ihre Kompetenz zum Urban Mining einbringen. Für die Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaftsform kommt es auf die Innovationskraft der deutschen Bauwirtschaft und ihrer Zulieferer an.

Stahlreport: Welche Stellschrauben spielen in Bezug auf Nachhaltigkeit die größte Rolle für die Baubranche?

Yurda Burghardt: Nach Angaben des Umweltbundesamtes verarbeitet die Bauindustrie mehr als 70 Prozent aller abgebauten Rohstoffe in Deutschland. Für mehr Nachhaltigkeit lassen sich vor allem drei Stellschrauben anziehen: Alternative Rohstoffe wie Holz und Lehm sowie das Recycling von Beton und vor allem Stahl, das voll recyclingfähig ist und wodurch sich viel Energie und damit CO2 einsparen lässt; eine ressourcenschonende Bauweise, die auch die spätere Nutzung einschließt; sowie anstelle von Abriss und Neubau die Sanierung von Gebäuden. Für den Einkauf ist zwar vor allem der erste Punkt relevant. Aufgrund von zunehmenden Nachhaltigkeitsvorgaben muss er aber auch die beiden anderen Punkte in den Blick nehmen. Und überhaupt gilt es, schon bei der Bauplanung mehr auf langfristig flexible Nutzungsmöglichkeiten von Gebäuden zu achten. Denn es ist zumindest fraglich, ob beispielsweise der aktuelle Trend zum Großraumbüro anhält oder sich nach einiger Zeit wieder umkehrt. Umbau ist ressourcensparender als Neubau.

Stahlreport: Welche Rolle spielen Werkstoffe wie Stahl und Beton in der Gesamtheit des Baueinkaufs? Wie sind sie zu gewichten?

Yurda Burghardt: Baustahl ist mit einem Anteil von etwa zehn Prozent die größte Kostenposition der Bauwirtschaft, die etwa 35 Prozent des in Deutschland eingesetzten Stahls verbraucht. Auf Stahl insgesamt entfallen etwa sechs Prozent der deutschen Klimagase. Da Baustahl jedoch zu zwei Dritteln aus Stahlschrott im Elektroofen-Verfahren hergestellt wird, bei dem rund 80 Prozent weniger Klimagase anfallen, ist seine Kohlendioxydbilanz etwas günstiger, was den Anteil der Bauwirtschaft an den gesamten Stahl-CO2-Emissionen, auch bedingt durch den aktuellen Strommix, auf etwa 1,5 Prozent reduziert. Dieser lässt sich bei konsequenter Verwendung von Erneuerbaren Energien und Stahlschrott weiter reduzieren – tendenziell bis auf null. Bei der zweitwichtigsten Kostenposition, Beton, ist die Bauwirtschaft de facto der einzige Abnehmer. Die Höhe der Kosten des Betons für den Bau lässt sich am Umsatz der Zementindustrie ablesen: etwa drei Milliarden Euro jährlich bei rund 34 Millionen Tonnen Zement. Und Zement ist nach Angaben der Umweltorganisation WWF für zwei Prozent der Treibhausgasemissionen Deutschlands verantwortlich. Allein auf den Einsatz der Vorleistungsgüter Stahl und Beton im Bau kommen also zusammen etwa 3,5 Prozent der Treibhausgasemissionen Deutschlands – knapp das Dreifache des direkten Anteils der Baubranche von 1,2 Prozent. Das zeigt, welche Bedeutung der Einkauf in der Bauwirtschaft für die Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks hat.

Stahlreport: Sehen Sie Bewegung konkret beim Stahleinkauf? Spielt „grüner Stahl”, der in der Stahlbranche derzeit stark diskutiert wird, überhaupt eine größere Rolle beim Einkauf?

Yurda Burghardt: Das ist eher ein Thema für den Automobil- oder den Maschinenbau. Denn in der Bauwirtschaft werden vor allem die Stahlprodukte nachgefragt, die großteils klimaschonender aus Schrott über die Elektroroute hergestellt werden. In der Bauwirtschaft sehen wir deshalb aktuell noch kaum oder gar keine Bewegung beim grünen Stahl. Ohnehin gibt es dazu bislang nur Absichtserklärungen. Zudem ist grüner Stahl nach Industrieangaben etwa 20 bis 30 Prozent teurer als herkömmlicher, für die Transformation sind Milliardeninvestitionen nötig. Erst wenn der Staat sich mit den geplanten Klimaschutzverträgen an den Kosten der Transformation beteiligt und grüner Stahl zu wettbewerbsfähigen Preisen auf den Markt kommt, dürfte das zu einem Thema für den Einkauf werden.

Stahlreport: Wie müssen sich Werk- und Baustoffanbieter – Hersteller und Händler – aufstellen, um den Anforderungen an nachhaltigeres Bauen und dem dazugehörigen Einkauf gerecht zu werden?

Yurda Burghardt: Die Hersteller stehen jetzt vor der Aufgabe, die Transformation des Ressourcenverbrauchs zu gestalten – hin zu nachwachsenden Rohstoffen, recycelbaren Materialien, geringerem Energieverbrauch und Erneuerbaren Energien, etwa bei der Produktion von Beton und Baustahl. Vor allem bei letzterem gilt es, die Chancen zu seiner klimaneutralen Herstellung voll zu nutzen. Die Hersteller müssen die technischen Möglichkeiten nutzen, um leichter, ressourcensparender und klimaschonender zu bauen, und ihr Produktportfolio um leistungsfähigere, nachhaltigere Baustoffe erweitern. Beim Bau für die öffentliche Hand, die etwa ein Viertel des gesamten Bauvolumens aufnimmt, spielt nachhaltiges Bauen ohnehin eine zunehmend größere Rolle aufgrund gesetzlicher Vorgaben. Hier wird vom Einkauf erwartet, dass er bei Vergabeentscheidungen an Lieferanten Nachhaltigkeitskriterien abbildet und berücksichtigt. Kriterien für den Einkauf können bei der Materialbeschaffung und -verwendung Umweltsiegel wie beispielsweise der Blaue Engel für Holz sein oder der Ausschluss bestimmter umweltschädlicher Stoffe, der Emissionsausstoß von Baumaschinen, die Organisation der Abfallwirtschaft und weitere Aspekte. Damit Hersteller überhaupt als potenzielle Lieferanten in Frage kommen, müssen sie sich darauf einstellen, entsprechende Informationen und Nachweise oder Zertifikate – etwa über das Ausmaß von CO2-Emissionen – bereitzustellen, um dem Einkauf so die Beurteilung zum Beispiel mit Blick auf die Berechnung der Lebenszykluskosten zu ermöglichen.

Stahlreport: Wie vermeiden es Unternehmen, die höheren Kosten nachhaltigeren Bauens selbst ganz tragen zu müssen?

Yurda Burghardt: Sofern ihnen der Bauherr eine höhere Zahlungsbereitschaft für Nachhaltigkeit signalisiert, können die Unternehmen bei der Baupreiskalkulation zwischen nachhaltiger und nicht nachhaltiger Bauweise differenzieren und so dem Auftraggeber die Entscheidung über die Kosten überlassen. Bei Ausschreibungen sollten Unternehmen darauf achten, dass eine einheitliche Vergleichsbasis im Wettbewerb besteht und höhere Kosten aufgrund der Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien in Vergabeentscheidungen mit einem Bonus vergütet werden, um im Wettbewerb gegenüber solchen Unternehmen keinen Nachteil zu erleiden, die diese Kriterien nicht erfüllen. Außerdem: Von 2025 an muss jede Heizung, die verbaut wird, zu 65 Prozent mit regenerativer Energie betrieben werden. Hier haben Unternehmen ohnehin keine Wahl mehr. Gegebenenfalls können die Betreiber von Vermietungsgebäuden die Kosten über die Miete zumindest teilweise weitergeben.

Quelle: Stahlreport | 1/2|23

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