TOP Thema in der FAZ: Lieferketten-Stress
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Dicke Polster gegen Magersucht
Corona bedeutet Stress für die Lieferketten. Deshalb bauen viele Unternehmen ihre Lager aus. Das billige Geld machts möglich.
Von Mark Fehr, Frankfurt
Ich kenne nicht ein einziges Unternehmen, das auf vollen Lagern sitzt”, sagt Ronald Bogaschewsky. Er leitet den Arbeitskreis Logistik und Einkauf der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft, in der sich Wissenschaftler und Unternehmer über Praxisfragen austauschen. “Wenn es überhaupt noch Lager gibt, dann in China”, sagt Bogaschewsky. Die Volksrepublik habe die Versorgung ihrer Wirtschaft geostrategisch sichergestellt, während Unternehmen aus westlichen Ländern sich über den freien Markt versorgen müssen, der gerade leer gefegt sei.
Erschwerend kommt hinzu: Viele Unternehmen haben in der Vergangenheit ihre Lagerhaltung ganz bewusst auf ein Minimum reduziert. Es herrschte das Ideal der schlanken Produktion. “In einem robusten Umfeld mag das sehr effizient sein”, sagt Bogaschewsky. “Doch eine schlanke Produktion ist eine fragile Produktion.”
Das zeigte sich etwa zu Beginn der Corona-Krise, als Minen, Raffinerien oder Fabriken schlossen und viele Transporte wegen geschlossener Grenzen und Flughäfen zum Stillstand kamen. Damals fiel das nur nicht ganz so stark auf, weil auch die Nachfrage sank und die Kundschaft zu Hause blieb. Richtig spürbar wird die Knappheit erst jetzt, wo die Nachfrage wieder sprunghaft steigt, während die Lager leer sind und die Transportkapazitäten noch nicht wieder das frühere Niveau erreicht haben.
Die Autoindustrie bekommt die dadurch rasant steigenden Beschaffungspreise schmerzhaft zu spüren. So hat die Unternehmensberatung AlixPartners ausgerechnet, dass die Rohstoffkosten gegenüber dem Vorjahr um 92 Prozent gestiegen sind – fast eine Verdopplung auf ein Rekordhoch von 3600 Dollar je Fahrzeug. In der deutschen Autoindustrie wirkt offenbar nach, dass sie das Konzept der schlanken Produktion in der Vergangenheit auf die Spitze getrieben hat. “Das hat sie aber nicht schlank gemacht, sondern eher magersüchtig”, sagt Wirtschaftswissenschaftler Bogaschewsky.
Wenn unerwartete Ereignisse aufträten, könne der Schlankheitswahn der Industrie schnell zur Gefahr werden. Das habe schon der Tsunami im Jahr 2011 in Japan gezeigt, der die Lieferketten in dem hoch industrialisierten Land reißen lies – mit schweren Folgen auch für die internationalen Handelspartner. Seither habe ein Umdenken eingesetzt. Unternehmen versuchen laut Bogaschewsky, ihre Versorgung auf mehrere Lieferanten zu verteilen, statt sich von einem einzigen abhängig zu machen. Hinzu komme, dass eine gewisse Lagerhaltung in Zeiten niedrigster Zinsen wieder erschwinglicher geworden sei. “Jetzt zeigt sich auch, wer seine Zulieferer gut behandelt hat, statt stets den letzten Cent herauszupressen”, sagt Bogaschewsky.
Vorbildlich sei da der japanische Autokonzern Toyota. Der bekomme selbst in den USA weiter Computerchips, während die Konkurrenten momentan leer ausgingen. Toyota behandele seine Lieferanten nicht nur gut. Im Heimatland schließen sich Unternehmen mit ihren Lieferanten zusammen, um die Versorgung sicherzustellen. Keiretsu nennen die Japaner dieses Konzept der Verbundgruppen.
Allerdings haben nur wenige Unternehmen in den vergangenen Jahren das billige Geld genutzt, um ihre Lieferketten robuster zu gestalten. Der Professor für Betriebswirtschaftslehre und auf Produktionslogistik spezialisierte Unternehmensberater Horst Wildemann nennt Porsche als ein Beispiel. Der Autohersteller lässt nur noch volle Lastwagen anrollen und bestellt daher im Zweifel etwas mehr, als er unmittelbar braucht. “Dadurch steigen zwar die Lagerbestände, doch gleichzeitig spart Porsche Transportkosten und schont die Umwelt”, erklärt Wildemann. Angesichts rekordniedriger Zinsen sei es kein Problem mehr, Kapital in Form von Lagerbeständen im Umlaufvermögen zu binden, wie Kaufleute es formulieren.
Zuvor hatte Wildemann jahrzehntelang Bestandssenkungen in Unternehmen umgesetzt, um das in Lagern gebundene Kapital für Wachstum freizusetzen. Doch Senkungen um jeden Preis sind Vergangenheit. Stattdessen bauen Unternehmen etwa aus der Auto- und Elektroindustrie laut Wildemann mittlerweile sogar Fabriken in unterschiedlichen Ländern auf und produzieren dann an dem Standort, der gerade mit Nachschub beliefert werden kann. Um Versorgungsengpässe für Unternehmen zu prognostizieren, hat Wildemann einen Algorithmus entwickelt. Die Künstliche Intelligenz wertet 25 Parameter aus, etwa Preise für Rohstoffe oder Lagerbestände. Wichtig sei dabei zu erkennen, welches Vorprodukt für ein Unternehmen am wichtigsten sei.
Das bestätigt auch René Schumann. Er war Führungskraft im Einkauf von Daimler und hat vor drei Jahren ein eigenes Unternehmen namens Negotiation Advisory Group gegründet, das Industriebetriebe beim Aushandeln von Verträgen mit Lieferanten berät. “Momentan stehen die Einkäufer auf der Bühne”, sagt Schumann angesichts der grassierenden Knappheit an Rohstoffen und Zulieferteilen. Viele Unternehmen hätten verstanden, dass sie nicht wie sonst von der Hand in den Mund leben könnten. Stattdessen müssen sie nun genau definieren, welche Materialien und Teile kritisch sind und auf keinen Fall fehlen dürften. “Kaum etwas ist so teuer wie ein Stillstand der Produktion”, sagt Schumann, denn in einem solchen Fall fallen die fixen Kosten, etwa für Miete und Personal, weiter an, ohne dass Umsätze erzielt werden.
Der Berater hat eine Datenbank mit rund 62 000 Indizes, die Rohstoffmaterial- und Transportkosten überwachen. Füllen die Unternehmen nun Lagerhallen, die jahrelang leer standen? Über diese Vorstellung muss Schumann schmunzeln. Denn der Beschaffungsprofi weiß: Die Lager befinden sich in Lastwagen, Eisenbahnwaggons oder Schiffscontainern. Entscheidend sei nicht der Ort, an dem die Zulieferprodukte liegen, sondern die Planbarkeit. Beispiel: Wenn der Besteller weiß, dass seine für die Produktion in vier Wochen benötigte Ware gerade in Asien auf den Frachter geladen werde, könne er die rechtzeitige Ankunft einplanen, weil die Transportkette mit Chips überwacht wird. Entscheidend sei nun jedoch, die wichtigen Teile nicht spontan zu bestellen, sondern mit Vorlauf.
Vorausschauend zu bestellen und einzukaufen mag die Not etwas lindern. Doch selbst vorbestellte Ware bleibt auf dem Weg in die Fabriken hängen, wenn große Häfen wegen Corona schließen, wie kürzlich in Chinas Perlflussdelta, oder wenn havarierte Containerschiffe einen wichtigen Kanal blockieren.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Dienstag, 29. Juni 2021, Nr. 147 / Seite 20
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